Wer gehört zur Risikogruppe Immundefizienz/-suppression?
Wer gehört zur Risikogruppe Immundefizienz/-suppression?
Impfungen sind für Menschen mit angeborener oder erworbener Immundefizienz bzw. unterdrücktem Immunsystem (Immunsuppression) essenziell, da sie ein höheres Risiko haben, an Infektionskrankheiten zu erkranken, die zudem schwerer verlaufen als bei Immungesunden.1 Mehr dazu hier

Warum es wichtig ist, Risikogruppen für Infektionskrankheiten zu erkennen
Warum es wichtig ist, Personen zu erkennen, die einer Risikogruppe für bestimmte Infektionskrankheiten angehören, wird am Beispiel von Pneumokokken deutlich. Es gibt bestimmte Personengruppen, die besonders durch Pneumokokken gefährdet sind, wie z. B. Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit:1
- angeborenem oder erworbenem Immundefekt bzw. mit unterdrücktem Immunsystem (Immunsuppression)
- sonstigen chronischen Krankheiten wie chronischen Herzerkrankungen, chronischen Erkrankungen der Atemwege (z. B. Asthma, chronisch obstruktive Lungenerkrankung, Lungenemphysem), Stoffwechselkrankheiten wie z. B. ein medikamentös-behandelter Diabetes mellitus oder neurologischen Krankheiten wie z. B. ein Anfallsleiden oder in Folge eines Hirnschadens entstandene Bewegungsstörungen und Muskelsteife, die als Zerebralparesen bezeichnet werden
- einem erhöhten anatomischen oder fremdkörper-assoziierten Risiko für eine durch Pneumokokken verursachte Gehirnhautentzündung, wie z. B. bei Vorliegen einer Verbindung zwischen der Gehirn-Rückenmark-Flüssigkeit und der Außenwelt (Liquorfistel) oder dem Tragen einer implantierten Hörprothese (Cochlea-Implantat)
All diese Personengruppen haben ein erhöhtes Risiko für Pneumokokken-Erkrankungen oder sind im Falle einer Pneumokokken-Erkrankung häufiger von einem schweren Krankheitsverlauf betroffen.2 Daher empfiehlt die STIKO für sie die Indikationsimpfung gegen Pneumokokken.1
Infektionsrisiko & die möglichen Konsequenzen
Menschen, die an einer Autoimmunkrankheit oder einer chronisch-entzündlichen Erkrankung leiden oder mit einer Therapie behandelt werden, die das Immunsystem beeinflusst, sind einem erhöhten Risiko gegenüber viralen und bakteriellen Infektionen ausgesetzt. Sind diese nicht geimpft, so können impfpräventable Infektionen die Häufigkeit von Erkrankungen und die Zahl der Todesfälle erhöhen.3 Pneumokokken-Erkrankungen, Grippe, Masern, Hepatitis B oder Windpocken / Gürtelrose können bei Menschen mit Autoimmunerkrankung oder unter immunsuppressiver Therapie gegenüber Gesunden und Personen mit intaktem Immunsystem…
- …schwerere Verläufe aufweisen.3
- …mit einem gesteigerten Risiko für Komplikationen einhergehen.3
Immundefekte & unterdrücktes Immunsystem: Nur eine Ausnahme in der Praxis?
Stetig wächst die Zahl der behandelbaren Patient:innen mit chronisch-entzündlichen Erkrankungen, wie z. B. Colitis ulcerosa, Morbus Crohn oder Osteoarthritis, sowie mit Autoimmunkrankheiten, wie z. B. rheumatoider Arthritis, systemischem Lupus erythematodes oder multipler Sklerose. Dank der immer breiteren Palette an Therapieoptionen mit intensiver medikamentöser Unterdrückung des Immunsystems sowie dem Einsatz von sogenannten Biologika haben sich die Prognose und der Behandlungserfolg für die Betroffenen deutlich verbessert. Doch daraus ergibt sich, dass immer mehr Menschen mit einem krankheits- und / oder therapiebedingt funktionell eingeschränkten Immunsystem medizinisch betreut werden.3
In den letzten Jahren ist die Zahl der Patient:innen mit angeborenen primären Immundefekten sowie mit mehr oder weniger stark ausgeprägter, erworbener sekundärer Immundefizienz kontinuierlich gestiegen. Infolgedessen hat prinzipiell auch der Bedarf und die Komplexität der Impfberatung deutlich zugenommen. Allerdings ist die Impfquote bei Menschen mit Funktionsstörungen des Immunsystems insgesamt gering.4 Doch was könnten die Gründe für die Zurückhaltung vieler Ärzt:innen bei der Impfung von Patient:innen mit Immundefizienz bzw. Immundefekten sein? Aus Sicht vieler Ärzt:innen handelt es sich eher um seltene Einzelfälle, weshalb hier verschiedene Hürden bestehen:4
- Um die Impfindikation sicher stellen zu können, können einerseits Informationen zu Indikationen und Kontraindikationen von Impfungen und die Erfahrung mit dem betreffenden Immundefekt oder mit der Wirkungsweise der Immuntherapie fehlen.4
- Oft ist der Umfang der individuellen Einschränkung des Immunsystems unbekannt.4
- Hinzu kommen generelle Bedenken zur Impfung bei Menschen mit eingeschränktem Immunsystem.4
Wir stellen Ihnen im Folgenden 5 Patient:innengruppen vor, die eine erworbene oder angeborene Immundefizienz bzw. Immunsuppression aufweisen.
Personen mit chronischer Nierenerkrankung
Infektionen zählen zu den häufigsten Gründen für die Aufnahme ins Krankenhaus von Patient:innen mit chronischer Nierenerkrankung (CKD).5 Darüber hinaus gelten Infektionen als zweithäufigste Todesursache bei CKD. Doch warum ist das so? Unabhängig von der Ursache beeinflussen chronische Nierenerkrankungen das angeborene und das erlernte Immunsystem.6 Die Reduktion der Nierenfunktion geht dabei mit einer Abnahme der Lymphozytenzahl einher, allen voran der B-Lymphozyten und CD4+ T-Lymphozyten. Auch die Antigenantwort der T-Zellen kann bei CKD beeinträchtigt sein.5 Es wird außerdem eine stadienabhängige Beeinträchtigung der Immunantwort beobachtet.
Die deutlichste und klinisch bedeutsamste Einschränkung des Immunsystems liegt bei CKD-Patient:innen mit den Stadien G3b (glomeruläre Filtrationsrate, kurz GFR 30 – 40), G4 (GFR 15 – 29) und G5 (GFR < 15) vor.6 Es ist empfehlenswert, CKD-Patient:innen möglichst bereits bei beginnender Erkrankung durch zu impfen, weil…
- …mit dem stadienweisen Fortschreiten der CKD mit immer schlechteren Impferfolgen zu rechnen ist;
- …durch die begleitende immunsupprimierende Therapie in den fortgeschrittenen Stadien der CKD weitere Unsicherheit mit Blick auf den Impferfolg besteht.6
Wegen des erhöhten Risikos sind für bestimmte Personengruppen z. B. mit CKD die Impfung gegen Pneumokokken und Influenza empfohlen. Beispielsweise empfiehlt die STIKO die Impfung gegen Pneumokokken u. a. für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit erhöhter gesundheitlicher Gefährdung infolge einer Immundefizienz bei chronischem Nierenversagen oder nephrotischem Syndroms.1
Personen mit chronisch-entzündlichen, rheumatischen Erkrankungen
Es gibt eine Vielzahl an rheumatischen Erkrankungen, von denen einige per se mit einem erhöhten Infektionsrisiko einhergehen.6 Zur Behandlung von chronisch-entzündlichen, rheumatischen Erkrankungen ist in den meisten Fällen eine langfristige Unterdrückung des Immunsystems nötig. Hierfür wird in der Regel eine Kombination aus Glukokortikoiden und einem weiteren Medikament eingesetzt, das ebenfalls das Immunsystem unterdrückt. Somit begünstigt nicht nur die aktive Grunderkrankung, sondern auch die medikamentös-bedingte Immunsuppression eine Anfälligkeit gegenüber (impfpräventablen) Infektionen.3
Die mit Abstand häufigsten chronisch-entzündlichen, rheumatischen Erkrankungen bei Erwachsenen sind die rheumatoide Arthritis (RA), die Psoriasis-Arthritis und Spondyloarthritiden. Menschen mit rheumatoider Arthritis:3
- erkranken fast doppelt so häufig an einer viralen oder bakteriellen Infektion wie Personen ohne RA3
- zeigen eine erhöhte Sterblichkeit (bezogen auf alle Todesursachen) im Vergleich zur Gesamtbevölkerung3
- haben u. a. ein erhöhtes Risiko, an Grippe und an Gürtelrose zu erkranken.3
Personen mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen
Die häufigsten chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen (CED) sind Morbus Crohn und Colitis ulcerosa. Eine CED führt zwar – mit Ausnahme von bestimmten Gendefekten – an sich nicht zu einer Immundefizienz.3 Die Immunsuppression entsteht bei CED infolge einer Therapie mit Kortikosteroiden oder andere Medikamenten, die das Immunsystem beeinflussen, in seltenen Fällen aber auch durch Mangelernährung.6 Deshalb sind CED-Patient:innen als teilweise immundefizient anzusehen und weisen ein erhöhtes Risiko auf, an einer (durch eine Impfung vermeidbaren) Infektion zu erkranken.3
Praxistipp
CED-Patient:innen haben eine hohe Lebenszeitwahrscheinlichkeit für eine dauerhafte Therapie, die das Immunsystem unterdrückt. Daher ist es empfehlenswert, die Betroffenen nach der Diagnose bereits zu Beginn und möglichst vor der Etablierung einer solchen Behandlung gemäß aktueller STIKO-Empfehlung zu impfen.6
Patient:innen mit Krebserkrankungen
Es leben aktuell etwa 4 Millionen Menschen in Deutschland, die im Laufe ihres Lebens eine Krebsdiagnose gestellt bekommen haben. Es ist bekannt, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit onkologischen Erkrankungen ein erhöhtes Risiko für (zum Teil durch eine Impfung vermeidbare) Infektionskrankheiten haben. Dabei variiert das Infektionsrisiko in Abhängigkeit vom Erreger und der vorliegenden Erkrankung. Auch das Alter, Begleiterkrankungen und die bestehende Therapie nehmen Einfluss auf das Infektionsrisiko.7
- Traditionelle Chemotherapeutika wirken als Zellgift – vor allem auf Zellen, die sich schnell teilen. Das gilt nicht nur für bösartig entartete Zellen, sondern auch für normale Zellen im Knochenmark, im Verdauungstrakt und den Haarwurzelzellen.6
- Durch die Hemmung des Knochenmarks und Abnahme der Blutzellen (vor allem der Leukozyten) kann eine Chemotherapie zur Immunsuppresion führen.6
- Weil es durch eine Chemotherapie zu einem Verlust der Immunität kommen kann, ist eine Wiederholung der Impfungen prinzipiell empfehlenswert.6
Menschen mit hämatologischen und onkologischen Erkrankungen haben durch die krankheits- und / oder therapiebedingte Immunsuppression (z. B. Stammzelltransplantation) ein erhöhtes Risiko für Infektionskrankheiten. Hierbei spielen impfpräventable Erreger eine Rolle, wie z. B. Influenzaviren, Pneumokokken oder Haemophilus influenzae Typ b.7
Wussten Sie schon?
Gegenüber Gesunden ist das Risiko für invasive Pneumokokken-Erkrankungen…
- …bei einem Multiplen Myelom um das 60-fache erhöht.7
- …bei einer chronisch-lymphatischen Leukämie oder einem Lungenkarzinom um mehr als das 20-fache erhöht.7
- …nach Stammzelltransplantation um das 17-fache erhöht.7
Vor einer Stammzelltransplantation (SZT) erfolgt zur Vorbereitung einer gegen bösartige Tumorzellen gerichtete und / oder Strahlentherapie. Dabei wird das Immunsystem der Betroffenen vollständig zerstört, was in der Regel den Verlust der durch Impfungen und durchgemachte Infektionen erworbenen Immunität zur Folge hat. Nach der Transplantation muss der Impfschutz bei allen Empfänger:innen einer SZT durch erneute Grundimmunisierungen vollständig neu aufgebaut werden.7
Praxistipp
Weil die Immunantwort bedingt durch den verzögerten Wiederaufbau des Immunsystems vermindert sein könnte, sollte zwischen der SZT und den Impfungen im Allgemeinen generell ein Mindestabstand von 6 Monaten eingehalten werden (Ausnahmen Influenza und Pneumokokken: Mindestabstand von 3 Monaten nach individueller Risiko-Nutzen-Abwägung).7
Immundefizienz bei HIV-Infektion
Ein unbehandeltes, über mehrere Jahre chronisch bestehendes Vorhandensein des humanen Immundefizienz-Virus (HIV) im Blut führt im Verlauf der HIV-Infektion zu einer schweren Immundefizienz und bildet infolgedessen das erworbene Immundefektsyndrom (acquired immunodeficiency syndrome, AIDS) aus. Die Vermehrung der HI-Viren bei einer unbehandelten HIV-Infektion führt zu einer kontinuierlich fortschreitenden Abnahme und Funktionsstörung von bestimmten infizierten Immunzellen, den sogenannten CD4+ T-Lymphozyten, sowie einer zunehmenden Beeinträchtigung des Immunsystems.8
Durch eine antiretrovirale Therapie (ART) wird die Vervielfältigung der HI-Viren reduziert, was zu einem Anstieg der CD4+ T-Lymphozyten führen und mit der Stabilisierung des Immunsystems verbunden sein kann. Entsprechend der CDC-Klassifikation von 2014 wird zur Abschätzung der Schwere einer HIV-Infektion vorrangig die absolute CD4+ T-Zellzahl herangezogen.8
Schreitet die Immundefizienz fort, nimmt bei den Betroffen auch bei Vorliegen einer Grundimmunisierung die erregerspezifische Immunität sowie die generelle Infektionsabwehr ab.8 Opportunistische Infektionen – also Infektionen, die ansonsten harmlos sind, bei eingeschränktem Immunsystem aber schwere bis lebensbedrohliche Erkrankungen auslösen können – sind eine primäre Folge der defekten zellulären Immunität.6 Beispielsweise haben HIV-infizierte Erwachsene und Kinder gegenüber der Allgemeinbevölkerung ein erhöhtes Risiko für invasive Pneumokokken-Erkrankungen (IPD), das auch unter einer ART besteht. Als Hauptrisikofaktoren für eine IPD bei HIV gelten eine niedrige CD4+ T-Lymphozytenzahl und eine hohe HIV-Viruslast.8
Praxistipp
Häufig sind die Impfantworten von HIV-positiven Personen schwächer und halten weniger lange an als bei Immungesunden. Um eine möglichst optimale Immunantwort zu erzielen ist es sinnvoll, eine Impfung baldmöglichst nach einer, durch eine ART herbeigeführten, Wiederherstellung des Immunsystems durchzuführen.8
Bei HIV-infizierten Personen mit einer schweren Unterdrückung des Immunsystems bzw. bei einer AIDS-definierenden Erkrankung, sind Lebendimpfstoffe wegen des Risikos von Impfstoff-assoziierten Erkrankungen kontraindiziert. Daher sollte die Impfung mit einem Lebendimpfstoff verschoben werden, bis sich die Zahl der CD4+ T-Lymphozyten durch eine ART verbessert hat und eine kontrollierte Viruslast bis unter 200 Kopien / µl erzielt worden ist.8
Quellen
- Robert Koch-Institut (RKI). Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) beim Robert Koch-Institut 2022. Epid Bull 2022;4:3-66
- Robert Koch-Institut (RKI). Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) am RKI. Stand: September 2016. Epid Bull 2016;37:385-406.
- Wagner N et al. Impfen bei Immundefizienz – Anwendungshinweise zu den von der Ständigen Impfkommission empfohlenen Impfungen. (IV) Impfen bei Autoimmunkrankheiten, bei anderen chronisch-entzündlichen Erkrankungen und unter immunmodulatorischer Therapie. Bundesgesundheitsbl 2019;62:494-515. DOI: 10.1007/s00103-019-02905-1.
- Niehues T et al. Impfen bei Immundefizienz – Anwendungshinweise zu den von der Ständigen Impfkommission empfohlenen Impfungen (I) Grundlagenpapier. Bundesgesundheitsbl 2017;60:674-84. DOI 10.1007/s00103-017-2555-4.
- Ishigami J, Matsushita K. Clinical epidemiology of infectious disease among patients with chronic kidney disease. Clin Exp Nephrol. 2019;23(4):437-47. DOI: 10.1007/s10157-018-1641-8.
- Wiedermann U et al. Impfungen bei Immundefekten/Immunsuppression – Expertenstatement und Empfehlungen. Wien Klin Wochenschr. 2016;128 Suppl 4:337-76. DOI: 10.1007/s00508-016-1033-6.
- Laws H-J et al. Impfen bei Immundefizienz – Anwendungshinweise zu den von der Ständigen Impfkommission empfohlenen Impfungen. (III) Impfen bei hämatologischen und onkologischen Erkrankungen (antineoplastische Therapie, Stammzelltransplantation), Organtransplantation und Asplenie. Bundesgesundheitsbl 2020;63:588-644. DOI: 10.1007/s00103-020-03123-w.
- Ehl S et al. Impfen bei Immundefizienz – Anwendungshinweise zu den von der Ständigen Impfkommission empfohlenen Impfungen. (II) Impfen bei 1. Primären Immundefekterkrankungen und 2. HIV-Infektion. Bundesgesundheitsbl 2018;61:1034-51. DOI: 10.1007/s00103-018-2761-8.